Mara Santidrián Korff

1 Juni 2022

Beiratsinterview mit Martina Stangel-Meseke

Martina ist geschäftsführende Gesellschafterin der Unternehmensberatung t-velopment in Bochum sowie Professorin für Wirtschaftspsychologie. Im Jahr 2005 erhielt sie mit ihrer Firma den Innovationspreis für das Projekt “Genderfaire Personalauswahl”. Von Juli 2008 bis Januar 2011 war sie Mitglied der Sachverständigenkommission des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Erstellung des Ersten Gleichstellungsberichts für die Bundesregierung zu Gleichstellung im Erwerbslebensverlauf. Sie engagiert sich in ihren Projekten u.a. für lebensphasen-orientiertes Personalmanagement mit Integration von Chancengleichheits- und Diversitäts-Aspekten. Darüber hinaus gibt sie in verschiedenen Verbänden, wissenschaftlichen Gremien und Vorträgen Handlungsimpulse für Frauen in Führungspositionen.

(Gender-)faire Personalauswahl ist ein immer wieder auftauchendes Thema, sowohl in der Politik, der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft. Gleichstellung der Geschlechter, Chancengleichheit für Minderheiten und ein aktives Vorgehen gegen Stereotypisierungen sind nur einige Aspekte, bei denen Untersuchungen gezeigt haben, dass Verbesserungen möglich und notwendig sind. Sie sind Grundbausteine unserer Demokratie und sollten daher auch Standards in Unternehmenskulturen sein. Wie es zu Benachteiligungen im Auswahlprozess kommt und was dagegen getan werden kann, berichtet Martina.

Frage 1: Wie kommt es dazu, dass im Auswahlprozess Minderheiten oft benachteiligt werden?

Aus meiner Sicht liegt es an der mangelnden Qualifizierung der Personen, die am Auswahlprozess beteiligt sind. Sie müssen zwingend einen Überblick über das ganze Auswahlverfahren haben. Das schließt die relevanten und operationalisierten Anforderungen, den Einsatz geeigneter Auswahlverfahren, einen standardisierten Prozess und letztlich auch die Begründung der Personalentscheidung ein. Meiner Auffassung nach ist es zusätzlich wichtig, dass die Entscheidungsfinder*innen in der Personalauswahl für Stereotypisierung sensibilisiert und trainiert werden. Die menschliche Neigung, unsere Umwelt in soziale Kategorien zu ordnen und zu stereotypisieren, lässt sich nicht per Knopfdruck ausschalten, sodass es an konsequentem Training bedarf. Heutzutage gibt es fundierte Verfahren, wie den Implicit Association Test (IAT), der die impliziten Einstellungen und Stereotype misst. So kann analysiert werden, ob Entscheider für bestimmte Neigungen besonders anfällig ist. 

Des Weiteren spielt auch die Unternehmenskultur eine große Rolle. In diesem Kontext beschäftige ich mich intensiv mit Gender-Themen. Bei der homosozialen Reproduktion werden Personen bevorzugt, die das gleiche Geschlecht haben oder einer ähnlichen sozialen Gruppe angehören wie die bisherigen Mitglieder. So ist es belegt, dass in einer männerdominierten Unternehmenskultur weniger die positionsspezifischen Anforderungen eine Rolle spielen, sondern viel mehr der Habitus. Damit ist gemeint, dass sich für die Besetzung einer neuen Führungsposition daran orientiert wird, wie sich die vorherigen Führungskräfte verhalten haben. Das führt dann dazu, dass eher männliche Führungskräfte rekrutiert werden und somit eine homosoziale Rekrutierung erfolgt.

Frage 2: Wie sehr steht Diskriminierung im Auswahlprozess an der Tagesordnung?

Sowohl theoretisch als auch praktisch steht Diskriminierung an der Tagesordnung. Diversität hat mittlerweile in vielen gesetzlichen Regeln Einklang gefunden und ist im Auswahlprozess mittlerweile eine Art Spiegel der Gesellschaft. Rechtlich gesehen spielen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das zweite Führungspositionen-Gesetz (FüPOG II) eine wesentliche Rolle in den Beurteilungs- und Auswahlverfahren. Die Bundesregierung hat darüber hinaus verschiedene Leitbilder definiert, beispielsweise das Leitbild zum Thema Gleichstellung und Chancengleichheit (2011-2021), oder im Jahr 2021 ein gesellschaftliches Ideal, das erklärt, dass ohne eine Gleichstellung der Geschlechter, eine gerechte und demokratische Gesellschaft nicht zu gewährleisten ist. Sofern Unternehmen attraktiv für Mitarbeiter*innen sein wollen, sollten sie innovativ und modern sein und entsprechende Gesetze, Ideale und Leitbilder in ihre Personalauswahl integrieren.

Frage 3: Welche Muster gibt es und wo gibt es noch wenig Befunde? 

Muster gibt es viele, was ich gerne am Thema „Gender und Führung“ aufzeigen möchte. Nach wie vor existieren in diesem Bereich Hindernisse für Frauen in Führungsposition zu gelangen. Zum Beispiel der Glass Ceiling Effect, der als Metapher für die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen steht und verdeutlicht, dass es unsichtbare Barrieren für Frauen gibt, die weitere Karriereschritte erschweren bzw. verhindern. Darüber hinaus gibt es Vorurteile gegenüber weibliche Führungskräfte mit vermeintlich “weiblichen Führungseigenschaften”, die angeblich dazu beitragen, dass nicht richtig geführt wird. Diese Annahmen sind oft im Mindset der Beurteilenden, obwohl sehr viele empirische Befunde diese widerlegen.

Ein sehr gut untersuchtes Stereotyp ist das “Think manager-Think male-Stereotype“. Das zeigt, dass das typische Bild der erfolgreichen Führungskraft stärker mit dem männlichen als dem weiblichen Stereotyp assoziiert ist. Werden Personen befragt, welche Eigenschaften ein Manager hat, dann berichten sie “typisch männliche” Attribute (beispielsweise dominant oder durchsetzungsstark). Und das trotz geschlechtsneutraler Konnotation des Begriffs Manager. Weibliche Führungskräfte hingegen werden eher als kommunikativ oder teamorientiert beschrieben. Das zeigt, dass dieses Stereotyp im Mindset als festes Muster für die „typische Führungskraft“ verankert sind. Dies hat u.a. Konsequenzen für die Rollenauskleidung der Frau in Führung. In einer männlichen Führungskultur herrscht oft eine Stereotypisierung gegenüber Frauen. Versucht eine Frau sich aktiv gegen diese Denkmuster zu wehren und verhält sich entsprechend den “typisch männlichen” Eigenschaften, wird dies negativ aufgenommen, da sie dann nicht dem weiblichen Stereotyp entspricht. Oftmals wird dann negativ diskriminiert

In diesen männerdominierten Führungskulturen kommt es ebenso oft vor, dass eine Frau bei Ausübung dieser Funktion als “Token Woman” gesehen werden. Also als Frau in einem Beruf, in dem sie eine Ausnahme bzw. Minderheit darstellt. Aufgrund dieser Sichtweise werden geschlechtsstereotype Erwartungen aktiviert und die Frau wird als femininer (‚typisch Frau’) wahrgenommen (gender-role-spillover). Damit steht sie unter ständiger Beobachtung und Fehler werden oft genau analysiert und übertrieben dargestellt. 

Ebenso ist die Selbstunterschätzung der Frau ein in der Sozialpsychologie robuster empirischer Befund, der ein individuelles Hindernis für Frauen in Führung darstellt. Die weibliche Selbsteinschätzung ist fokussiert auf Schwächen und Optimierungsmöglichkeiten. Frauen zweifeln an ihrer Passgenauigkeit bezüglich beruflicher Anforderungen und betrachten erfolgreiches Verhalten als Selbstverständlichkeit.

Unsere Gesellschaft ist durch eine Arbeitsmarktsegregation geprägt. So wird die Wahl und Ausübung bestimmter Berufe auf dem Arbeitsmarkt von Menschen mit bestimmten Merkmalen geprägt. Dies führt zu einer Klassifizierung der Berufe in “typisch männlich” und “typisch weiblich”. Die horizontale Segregation bezieht sich auf die Verteilung der Frauen und Männer in unterschiedlichen Branchen und Berufen (z.B. Männer im Baugewerbe, Frauen in sozialen Berufen). Die vertikale Segregation fokussiert die Verteilung der Frauen und Männer auf verschiedenen Stufen der betrieblichen Hierarchie (Proporz von Frauen und Männern in Führungsebenen).

Der Rahmen, der durch die Segregation vorgeben ist, ist aus meiner Sicht auch in unserer modernen Gesellschaft schwer zu durchbrechen. Immer wieder finden sich klassische Rollenverteilung im häuslichen Bezugsrahmen wieder. Beispielsweise gehen Frauen nach wie vor vermehrt in einer längere Elternzeit als Männer und bleiben oft in der „Teilzeitfalle“ hängen, um Familie, Pflege und Beruf zu vereinbaren. Solche geschlechtsspezifischen Entscheidungen wirken sich negativ auf den Erwerb einer Führungsposition aus. Denn sind oft mit Präsenzkultur und Überstunden assoziiert und daher inkompatibel mit individuellen Vereinbarkeitswünschen. 

Weniger Befunde gibt es meiner Meinung nach hingegen zu der Selbstwahrnehmung der Unternehmen. Hier wünsche ich mir Untersuchungen, die analysieren, ob sich Unternehmen sowohl als soziale und gesellschaftliche als auch als produktive Systeme verstehen. Wenn sie sich ausschließlich als produktives System verstehen, verfehlen sie meiner Meinung nach das Ziel und den Zeitgeist einer sich im Wandel befindenden Gesellschaft.

Mit dem Fokus auf den Megatrend “female-shift” sehe ich eine Chance und ernsthafte Bemühung, Geschlecht modern zu betrachten. Dafür bedarf es aus meiner Sicht einer glaubhaft kommunizierten Veränderungsbereitschaft der Organisationsmitglieder. Hier müssten meiner Meinung nach ebenfalls noch weitere Untersuchungen stattfinden.

Frage 4: Was muss man in der Zukunft noch machen, um wirklich faire Personalauswahl zu gewährleisten?

Ich würde mir wünschen, dass tatsächlich die Anforderungen von Wandeltrends  (“Megatrends”) mitberücksichtigt werden. Sie sollten in den Anforderungsanalysen für die Eignungsbeurteilung eine Rolle spielen. Ich appelliere ferner dafür, gesellschaftliche Realitäten zu berücksichtigen. Dafür ist es wichtig Fragen zu stellen wie “Wie ist meine Haltung zur Arbeit?”, “Wie vereinbare ich Job, Familie und Pflege?”, “Wie müssten Arbeitsbedingungen gestaltet sein, damit ich auch sinnhaft meine Qualifikationen entfalten kann?”. Die Umfeldbedingungen müssen viel stärker in die Anforderungsanalysen einfließen. Faktisch muss man dann die Personalauswahl hinsichtlich Gender oder anderer Merkmale blind betreiben und nur auf die Qualifikationen der Kandidat*innen achten.

Frage 5: Was gab es schon für Fortschritte in der Vergangenheit? Welchen Impact hat hier Corona gehabt? Man hört viel vom Thema Rückfall in alte Muster – wie beurteilst du das?

Heutzutage gibt es bereits verschiedene Maßnahmen zur Stärkung des Ergreifens eines geschlechts-atypischen Berufs bzw. einer Position. In diesem Kontext informieren und beraten Arbeitsagenturen. In der Berufs- und Ausbildungsberatung werden Gendertrainings angeboten und Präsentationen von Berufen in Informationsmaterialien revidiert und überarbeitet. Unternehmen präsentieren sich in Bildungseinrichtungen, um für ihre Ausbildungszweige geschlechterübergreifend zu werben. In den Medien werden Frauen und Männer in eben nicht klassischen Frauen- und Männerberufen gezeigt, um somit das Mindset in der Gesellschaft geschlechtergerechter zu beeinflussen. Initiativen, wie „Girls´ Day“, „Boys´ Day“, „Neue Wege für Jungs“, nationale Pakt „Komm mach MINT“ oder Diversity-Days sind entstanden, um gebündelt diese gewünschte Veränderung zu flankieren. 

Und trotz aller dieser Offensiven und Maßnahmen vollzieht sich dieser Prozess aufgrund stabil vorherrschender Stereotype im Schneckentempot. In diesem Kontext sind  Geschlechterquoten ein MUSS und ebenso ein ganz wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses. In der Personalauswahl und -entwicklung ist die Einführung eines Diversity-Managements sinnvoll, um faire Standards einzuhalten. Unternehmen müssen gesetzlich gesehen auch Auskunft darüber geben, inwiefern sie zu den gesellschaftlichen Idealen der Bundesregierung 2021 beigetragen haben.

Die Corona-Pandemie hat vielen Bereichen einen großen Schub in Richtung Digitalisierung gegeben. Damit verbunden bieten viele Unternehmen Mitarbeitenden Homeoffice- Möglichkeiten an, um digital und remote arbeiten zu können.

Vor der Pandemie war Home-Office aus meiner Sicht ein Mittel, um die Familie mit dem Beruf zu vereinbaren und beide aufeinander abstimmen zu können. Mit den andauernden Unsicherheiten, die die Pandemie jedoch mit sich gebracht hat und den verschiedenen Regelungen, beispielsweise bezüglich Kita- und Schulbesuchen, hat sich die Corona-Krise als Vereinbarkeits-Krise entpuppt.

Aus meiner Sicht ist jedoch positiv anzumerken, dass traditionelle Rollen neu reflektiert wurden. Natürlich gab es Rückschritte in Richtung stereotyper Rollenverteilungen in Familien. Es gab jedoch auch viele Unternehmen und Unternehmensnetzwerke, die Familien bei der Vereinbarung von Familie und Job unterstützt und auch moderne Familienbilder ermöglicht haben. Diese Vision behalten viele Unternehmen bei. Aufgrund dessen denke ich, dass Corona durchaus ein wichtiger Anstoß für die Vereinbarung von Job und einem modernen Familienleben war.

Meiner Meinung nach ist digitales Arbeiten heutzutage nicht mehr aufzuhalten. Die Vorteile der Individualisierbarkeit der Arbeitseinteilung hat vielen Mitarbeiter*innen gut gefallen. Ich bin mir sicher, dass es da keinen Rückfall geben wird. Für die Personalauswahl heißt dies, Prozesse zu digitalisieren und modern zu gestalten. Das wird sicherlich ein Zukunftsthema sein, da jetzt schon bekannt ist, dass dies sowohl Zeit als auch Kosten aus der Sicht des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers einspart. 

Ferner kann der Gefahr einer Diskriminierung aufgrund von Diversität sensibler entgegnet werden. Meiner Meinung nach ist deutlich erkennbar, dass durch die Digitalisierung ein Shift zum Inhaltlichen vollzogen wurde. Es ist also nicht mehr so relevant wer etwas sagt, sondern was gesagt wird. In diesem Kontext kann die digitale Personalauswahl einen ergebnisorientierten Fokus setzen. Dadurch fällt es schwerer, in alte stereotypisierende Denkmuster zu verfallen und sich davon leiten zu lassen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Martina! 

Weitere Infos zu Martina findest Du hier. Für eine (gender-)faire Personalauswahl, bei der es nur um die wahren Kompetenzen der Kandidat*innen geht, gehts hier zu Applysia.

de_DEGerman