Mara Santidrián Korff

22 August 2022

Beiratsinterview mit Meinald Thielsch

Meinald hat Psychologie an der Universität Münster studiert und ist seit 2013 am Institut für Psychologie der Universität Münster im Bereich Wirtschaftspsychologie, Human-Computer Interaction und User Experience tätig. 

In diesem Interview haben wir mit Meinald über User Experience (UX) und dessen Bedeutung für Unternehmen und die neuesten Trends und Forschungsergebnisse zum Thema gesprochen. Hier erfährst Du, wie eine gute Usability und ein intuitiven Nutzungsdesign, das Vertrauen der Nutzer*innen in digitale Produkte steigern, die User Experience fördern und die nötige Professionalität und Qualität eines Unternehmens ausstrahlen kann.

Frage 1: Usability und Nutzungserlebnis (User Experience) sind ähnlich, meinen aber nicht dasselbe. Was versteht man unter diesen Begriffen?

Das ist tatsächlich ein sehr komplexes Thema. Usability war bereits in den 1990ern ein Begriff – früher in Deutschland auch unter den Begriffen Benutzerfreundlichkeit oder Gebrauchstauglichkeit bekannt. Runtergebrochen lassen sich drei Grundbausteine von Usability identifizieren: Effektivität, Effizienz, Zufriedenheit. 

Angenommen Du hast ein technisches System: nehmen wir mal ein Online-Banking, welches Du einwandfrei nutzen kannst. Das heißt, alle notwendigen technischen Funktionen sind vorhanden und du bist damit auch zufrieden. Es ist effektiv, effizient und zufriedenstellend.

Nun gibt es aber weitaus mehr als diese drei Faktoren, die ein technisches System haben muss, um die heutigen Standards zu erfüllen. Beispielsweise spielt Vertrauen eine immer größere Rolle. Das kann nicht mit dem bekannten Usability-Konzept abgedeckt werden. Anfang der 2000er hat man sich dann überlegt, wie man diese “weichen” Faktoren am besten abbilden kann. Auf diese Weise kam dann der Begriff User Experience (UX) ins Spiel. Das Ziel war es herauszufinden, wie es Menschen mit technischen Systemen geht. Daher beschreibt es das Erleben bei der Nutzung eines Systems, eines Produktes oder eines Services. Dabei geht die UX bereits vor dem Kauf los und kann beispielsweise durch Erwartungen oder Einschätzungen Dritter beeinflusst werden.

Beispielsweise hast Du eine negative Erfahrung mit dem Online-Banking-System gemacht und vertraust ihm nicht mehr. Es ist dann sehr wahrscheinlich, dass Du ihm in Zukunft auch nicht mehr vertraust, bis Du ein positives Erlebnis erfährst. Usability ist für die Nutzer*innen oft nicht bemerkbar, bis etwas schief geht und man merkt, wie die Funktionalität eingeschränkt ist. 

In gewisser Weise kann man sagen, dass Usability in UX eingeschlossen ist, denn wenn die technischen Funktionen nicht funktionieren, ist die UX automatisch eingeschränkt. UX umfasst jedoch weitaus mehr und hängt auch mit individuellen internen Prozessen zusammen, wie beispielsweise meinen Erwartungen.

Frage 2: Wie spielt da die Zielgruppe mit rein?

Angenommen man hat Expertenanwender*innen, z.B. bei einem Medizinprodukt, was hohe Expertise beansprucht, ist die UX eine ganz andere, als bei Laienanwender*innen, die zum Beispiel einen Blutdruckmesser zuhause anwenden möchten. Auf diese Weise wird schnell klar, dass es eine riesige Zielgruppenabhängigkeit gibt. Auch bei der visuellen Gestaltung der Angebote und Systeme spielt die Zielgruppe eine Rolle. Zum Beispiel erwecken bestimmte Farben ein Gefühl des Vertrauens – deswegen haben DAX Konzerne häufig Webseiten mit blauen Akzenten. Beide Konstrukte, sowohl Usability als auch UX, kann man gar nicht ohne die entsprechende Zielgruppe erfassen. Es ist daher sinnvoll, die eigene Zielgruppe auch häufig zu testen und sie zu fragen, wie die Nutzung und Erwartungen an das Produkt sind. 

Vielleicht hast Du ja schonmal das Sprichwort “Form follows function” gehört. Das legt nahe, dass die Funktion wichtiger wäre als das Design. Ich würde jedoch eher den Satz “Form is function” unterschreiben. Gerade wenn man sich Apple Produkte anguckt, wird deutlich, wie erfolgreich ein gutes und unproblematisches Design sein kann. 

Oftmals herrscht noch das Verständnis, dass der Mensch sich an die Technik anpassen muss. Das fällt mir vor allem bei manchen SAP-Anwendungen auf. Da habe ich immer das Gefühl, das System wird nur für den Nutzen gebaut und nicht für die Nutzer*innen. Im Endeffekt muss man sich dann auch nicht wundern, wenn ganze Abteilungen das System boykottieren, weil sie damit nicht zurechtkommen und kein Vertrauen darin haben. Ich habe schon erlebt, wie dann Parallelsysteme aufgebaut werden, beispielsweise parallele Excel-Tabellen, weil dem System nicht mehr vertraut wird und sie alles nachkontrollieren wollen. Die Nutzer*innen bei der Gestaltung von digitalen Systemen in den Vordergrund zu stellen, ist daher ein kritischer Erfolgsfaktor. 

Frage 3: Was sagt die neueste Forschung zur UX im Jahr 2022?

Die öffentliche Meinung zeigt ganz klar eine Fokussierung des Themas “remote”. Das kann durchaus pandemiebedingt sein, da man schnell lernen musste orts- und zeitunabhängig zu arbeiten. Die Pandemie hat generell viele klassische Themen nochmal wiederbelebt, beispielsweise auch virtuelle Teamarbeit oder modernes Recruiting. Zum anderen das große Thema “Künstliche Intelligenz (KI)”. Hier ist klar, dass der Anteil an KI in fast allen Bereichen in den nächsten Jahren zunehmen wird. 

Generell sehe ich, dass die Pandemie der ganzen Welt einen riesigen Digitalisierungsschub gegeben hat, gerade auch im Personalbereich. Selbst die, die ihre Personalprozesse früher nicht überdacht haben, sehen jetzt eine große Notwendigkeit darin, Recruiting und Assessments in die digitale Welt zu bringen und durchzuführen. 

Für alle Interessierten an den letzten Trends, habt ihr hier den letzten Branchenbericht des Berufsverbandes Usability / User Experience zum Herunterladen. 

Frage 4: Wie wirkt sich eine besonders hohe bzw. besonders niedrige User Experience auf den Erfolg eines Unternehmens aus?

Logischerweise ist UX für ein Tech-Unternehmen essentiell. Im Personalbereich findet man einen Interaktionseffekt. Das bedeutet, dass UX umso wichtiger ist, je unbekannter ein Unternehmen ist. Bei einer starken Arbeitgebermarke, beispielsweise Porsche, sind einzelne Abstriche bei der UX für die meisten Bewerber*innen zu verkraften. Angenommen die Arbeitgebermarke ist schwach, z.B. bei einem weniger bekannten Unternehmen, ist die Karriereseite und das Bewerbungserlebnis (Candidate Experience) umso wichtiger. Das gilt auch unabhängig davon, ob die Produkte und Dienstleistungen sehr stark sind. Daher leuchtet der Rückschluss von einer guten UX im Bewerbungs- und Einstellungsprozess auf ein erfolgreiches Unternehmen ein. Eine amerikanische Studie fand sogar, dass bei einem guten Einstellungsprozess mit einer nutzerzentrierten Karriereseite, weniger Kündigungen der Neueingestellten eingegangen sind. Ergo, die UX wirkt sich darüber hinaus sogar auf die Beschäftigungsdauer im Unternehmen aus. 

Ein anderes aktuelles Beispiel ist der Mangel an Fahrer*innen für die Müllabfuhr. Hier muss man die Menschen dort abholen, wo sie auch wirklich sind. Das bedeutet, herauszufinden, welche Pain-Points LKW-Fahrer*innen in ihrer Arbeit haben. In diesem Beispiel vermissen es viele LKW-Fahrer*innen abends zu ihren Familien zurückzukehren. Auf dieser Grundlage kann der Vorteil des “Nach Hause kommen” nach einem Arbeitstag bei der Müllabfuhr hervorgehoben werden. Im Kombination mit einer niedrigen Bewerbungsschwelle, ist die Wahrscheinlichkeit mehr Bewerber*innen zu erreichen und anzusprechen viel höher. Beispielsweise indem Bewerber*innen keine Lebensläufe hochladen oder komplizierte Masken ausfüllen müssen. Auf diese Weise ist dem Fachkräftemangel entgegenzutreten und passive Bewerber*innen in bestimmten Branchen einfach abzuholen. Demgemäß ermöglicht eine gute UX Unternehmen, qualifizierte Menschen zu finden, die jedoch entweder nur wenig aktiv auf dem Bewerbungsmarkt unterwegs sind oder gar keine Zeit für eine aufwändige Bewerbung haben. Ein riesiges Plus im Gegensatz zu herkömmlichen Recruiting-Maßnahmen!

Frage 5: Welche Rolle spielt UX für Unternehmen gerade im Zuge der zunehmenden Digitalisierung? Müssen auch Unternehmen, die nicht nah an der Digitalisierung sind, trotzdem auf UX achten?

Es ist extrem wichtig für Unternehmen, auf ihre UX zu achten. Je digitalisierter eine Unternehmens- oder Arbeitslandschaft ist, desto wichtiger ist darauf zu achten, wie die Arbeitnehmer*innen mit dem digitalen Wandel zurechtkommen. Früher war Digitalisierung eine Wahl. Und diese Wahl wurde zumeist von jungen Leuten, die wirklich Interesse an Technik und Digitalem haben, getroffen. Heutzutage ist das etwas anders. Wenn ein Großteil der Arbeitnehmer*innen zumindest ab und zu digital arbeiten, sind da eine Menge Menschen dabei, die nicht technikaffin sind. Außerdem haben sie oft kein großes Interesse daran, ihre Kompetenzen dort auszuweiten. Hierdurch wird klar, dass eine gute UX und eine einfache Bedienbarkeit essentiell sind, um diese Menschen weiterhin erfolgreich beschäftigen zu können. 

Meiner Meinung nach sind alle Unternehmen für eine gute und professionelle UX verantwortlich. Auch diejenigen, die nicht im digitalen Raum tätig sind. Dort können sie dennoch beispielsweise ein einladendes und nutzerzentriertes Bewerbungsportal bereitstellen und Social-Media-Kanäle für sich nutzen. Ich denke, fast kein Unternehmen kann sich heutzutage den Themen professionelles Online-Auftreten und modernes Recruiting entziehen. Des Weiteren sind sehr viele Bereiche, von denen man im ersten Augenblick nicht annehmen möchte, dass sie digital sind, tatsächlich sehr nah an der Digitalisierung. Zum Beispiel sind Agrar- und Landwirtschaft heutzutage mit digitalen Maschinen besetzt, die ebenfalls eine einwandfreie UX bieten müssen.

Ich finde außerdem, dass der digitale Wandel in Unternehmen viel zu kurz kommt. Man muss sich mal vor Augen führen, wie lange teilweise über neue Investitionen im Unternehmen diskutiert wird. Jedoch wird vergleichsweise kurzfristig eine Software beschaffen, die jedoch das ganze Unternehmen umkrempeln wird. Auf dieser Software sollen dann alle Arbeitsschritte gestützt werden. Dabei hat man nicht einmal vorher getestet, ob die Arbeitnehmer*innen und deren Arbeitsdynamik damit zurechtkommen. Folglich sind diejenigen, die das Unternehmen bei schlechter UX verlassen, dann die leistungsstärkeren, die problemlos den Arbeitsplatz wechseln können. Du siehst: Die Zielgruppe, die korrekte Einführung digitaler Systeme und die Zufriedenheit der Nutzer*innen ist ausschlaggebend für moderne Unternehmen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Meinald!

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