Emily Klöber
•26 Februar 2025
Strukturierte Interviews – Probleme der praktischen Anwendung und die Lösungen

In der heutigen Arbeitswelt, in der die richtigen Talente für den Erfolg eines Unternehmens noch entscheidender sind, kommt der Auswahl geeigneter Mitarbeiter*innen eine zentrale Rolle zu. Ein gängiges und valides Instrument zur Personalauswahl sind strukturierte Interviews.
Aber was genau macht ein Interview „strukturiert“? „Strukturiert“ bedeutet, dass der Interviewprozess festgelegt und standardisiert ist. Im theoretischen Extremfall erhalten alle Bewerber*innen exakt dieselben Fragen in der gleichen Reihenfolge, was eine faire und objektive Vergleichbarkeit der Antworten ermöglicht. Dies verleiht dem Prozess jedoch eine gewisse Künstlichkeit, da kaum Raum für Flexibilität bleibt.
Was sind die Vorteile, die Grenzen und welche Arten von Strukturierung gibt es? Das erklären wir dir!
Grad der Strukturierung – Was bedeutet das und welche gibt es?
Es gibt verschiedene Grade der Strukturierung (Huffcutt et al. 2014), welche mit folgender Grafik erklärt werden können:
Die Strukturierung wird in vier Level unterteilt. Level 1 zählt hier als unstrukturiert und Level 4 ist das höchste Level an Strukturierung.
Unter Level 1 versteht man, dass es keine Vorgaben gibt und auch keine Struktur vorhanden ist. Das Rating wird am Ende als Gesamtrating abgegeben, es gibt keine Einzelbewertung der Fragen. Ebenfalls gibt es keine Verhaltensanker, an denen man sich orientieren oder bewerten kann.
Level 2 hingegen ist etwas mehr strukturiert. Die Interviewer*innen haben eine Liste mit Beispielfragen zu den Hauptdimensionen, mit welchen sie arbeiten können. Dies Auswahl der Fragen obliegt den jeweiligen Interviewer*innen. Ebenfalls wird hier mit einem einfachen Ranking gearbeitet. Die Skala des Ratings je Dimension könnte hier zum Beispiel eine 5er Skala oder eine 4er Skala sein.
Beim 3. Level sind die Interviewer*innen mit einer Liste von Fragen ausgestattet. Sie dürfen die Fragen frei wählen und die Kandidat*innen dürfen hier auch Nachfragen stellen. Die Bewertung der Antworten verläuft hier durch standardisierte Bewertungsskalen. Darunter zählen unter anderem verhaltensverankerte Ratingskalen.
Das 4. und somit das letzte Level ist hier das strukturierteste Levelt. Alle Fragen sind für die Interviewer*innen vorgegeben und auch Nachfragen der Interviewer*innen sind eingeschränkt. Jede Antwort wird hier mit einer Ratingskala bewertet und zu einem Gesamtergebnis je Dimension berechnet.
Es ist zu empfehlen, dass du dein Interview im 3. oder 4. Level der Strukturierung gestaltest. Dies führt zu einer höheren Vergleichbarkeit der Kandidat*innen, eine höhere Objektivität und auch eine höhere Validität.
Wie unterscheiden sich die Level in Bezug auf die Validität?
Bei folgender Grafik wird der Validitäts-Zuwachs nochmal dargestellt:
Der Graph veranschaulicht hier die Validität. Je näher an “1” die Validität ist, bzw. je höher der Graph steigt, desto höher ist sie. Hier stellt die Validität die Vorhersagekraft des Instrumentes dar. Das heißt, je höher die Validität, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, die richtige Auswahl zu treffen. Somit zeigt sich hier, dass ein höherer Strukturierungsgrad eine höhere Validität aufweist, jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze. Diese Grenze ist hier das dritte Level, da die Validität ab diesem Level stagniert.
Strukturierte Interviews zeichnen sich durch eine hohe Validität aus (0,42, Sackett et al., 2022) und sind im Vergleich zu anderen Auswahlmethoden besonders verlässlich. Doch was macht strukturierte Interviews so effektiv? Und warum ist es wichtig, bestimmte Faktoren bei der Durchführung zu berücksichtigen? Und wo liegen Schwierigkeiten bei der Anwendung? In dieser Grafik findest du den direkten Vergleich:
Prädiktor | Schmidt & Hunter (1998) Validitätsschätzung | Sackett et al. (2022) Validitätsschätzung |
Strukturierte Interviews | 0,51 | 0,42 |
Berufswissenstests | 0,48 | 0,40 |
Empirisch kodierte Biodaten | 0,35 | 0,38 |
Arbeitsproben | 0,54 | 0,33 |
GMA-Tests | 0,51 | 0,31 |
Integritätstests | 0,41 | 0,31 |
Für mehr Informationen zu den Strukturierungsgraden, klicke hier.
Die höchste Validität der Personalauswahlinstrumente
Laut der Ergebnisse der Studie von Sackett et al., (2022) sind strukturierte Interviews das Instrument mit der höchsten durchschnittlichen Validität für die Auswahl von Bewerber*innen. Das bedeutet, dass sie am besten dazu geeignet sind, um die Eignung von Kandidat*innen für eine bestimmte Position vorherzusagen. Hierbei schneiden strukturierte Interviews unter anderem besser ab als Berufswissenstests, empirisch kodierte Biodaten und auch Arbeitsproben.
Ein weiterer Vorteil strukturierter Interviews: Sie verringern den persönlichen Einfluss bzw. die persönliche Meinung der Interviewer*innen deutlich, das heißt, persönliche Vorlieben spielen bei der Entscheidung eine kleinere Rolle als bei anderen Methoden. Dies trägt dazu bei, ein ausgewogeneres und gerechteres Auswahlverfahren zu schaffen, das nicht auf kulturellen oder ethnischen Unterschieden basiert. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, um Diskriminierung und unbewusste Vorurteile zu minimieren und eine diverse Belegschaft zu fördern.
Somit sind strukturierte Interviews fair für die Kandidat*innen, ein sehr aussagekräftiges Instrument für die Unternehmen und auch vorteilhaft für die Interviewer*innen, da der ungewollte persönliche Einfluss, der von ihnen ausgeht, größtenteils beseitigt werden kann. Das klingt ja schonmal gut – aber wo liegt denn die Herausforderung?
Problemzone: die Variabilität der Validität
Obwohl strukturierte Interviews die höchste Validität aufweisen, gibt es eine Herausforderung: Sie zeigen eine hohe Variabilität in der Validität (0.42 +/- 0.24), was bedeutet, dass die Validität, also die Vorhersagekraft, von Interview zu Interview schwanken kann. Diese Variabilität ist auffällig hoch und wurde deshalb näher untersucht. Ein möglicher Grund für diese Schwankungen ist die Art, wie Interviewfragen formuliert werden.
Die meisten strukturierten Interviews folgen einem festen Fragenkatalog, doch die Art der Frage kann die Antwort erheblich beeinflussen. Als Beispiel: Fragen wie „Können Sie mir eine Situation erläutern, in der Sie mit einem wütenden Kunden umgehen mussten?“ können sowohl auf der „typischen“ als auch der „maximalen“ Performance von Kandidat*innen basieren.
Die „typische“ Leistung beschreibt, wie Menschen sich in Alltagssituationen verhalten, während die „maximale“ Leistung beschreibt, was sie unter ihrer besten Leistung verstehen. Diese beiden Leistungstypen unterscheiden sich deutlich und stehen nur schwach miteinander in Verbindung. Das führt dazu, dass die Aussagekraft von Bewertungen je nach Kontext schwanken kann.
Um diese Schwankungen zu reduzieren, ist es wichtig, Fragen präzise und exakt zu formulieren. Bei der Entwicklung eines Interviews sollte man sich vorab genau überlegen, ob man die alltägliche Leistung oder die maximale Leistung messen möchte, und die Fragen entsprechend anpassen. Eine bewusste Wortwahl und die gezielte Ausrichtung auf den gewünschten Leistungstyp können die Validität der Ergebnisse erhöhen und die Variabilität minimieren.
Kognitive Prozesse und die Gefahr der kognitiven Überlastung
Ein weiteres Problem bei strukturierten Interviews ist die kognitive Belastung der Kandidat*innen. Menschen können durchschnittlich vier Sachen gleichzeitig verarbeiten (Cowan, 2010). Um in einem Interview eine präzise und vollständige Antwort zu situativen Fragen zu geben, müssen die Bewerber*innen mehrere kognitive Schritte durchlaufen:
- Entschlüsseln der Frage
- Suchen von relevanten Erfahrungen im Langzeitgedächtnis
- Vergleichen und Auswählen der optimalen Erfahrung
- Abrufen von Details der gewählten Erfahrung
- Formatierung der Antwort für die mündliche Präsentation
Zu sehen ist, dass für die Antwort einer Frage ein kognitiver Schritt zuviel benötigt wird, das wiederum kann zu einer Überlastung der Kandidat*innen führen. Diese Schritte sind besonders herausfordernd, wenn die Frage eine detaillierte Antwort erfordert und die Kandidat*innen unter Zeitdruck stehen. Die kognitive Überlastung könnte dazu führen, dass Bewerber*innen Schwierigkeiten haben, ihre Erfahrungen in der gewünschten Weise darzustellen.
Ein effektiver Ansatz zur Minderung der kognitiven Belastung könnte aus der Rechtspsychologie übernommen werden. Hier werden Zeugen schrittweise durch den Erinnerungsprozess geführt, um ihre Aussagen zu strukturieren und zu präzisieren. Interviewer*innen könnten ähnliche Techniken anwenden, indem sie mit allgemeinen, offenen Fragen beginnen, um die Erinnerungen der Kandidat*innen zu aktivieren, und dann mit gezielten Nachfragen weitergehen, um die relevanteste Erfahrung detailliert zu erfassen. Was aber nicht bedeutet, dass Kandidat*innen verhört werden sollen. Die Gesprächsatmosphäre ist ein wichtiger Bestandteil, auch um die Motivation der Kandidat*innen herzustellen, sich zu öffnen und Informationen bereitzustellen. Gleichzeitig sollte aber das Interview natürlich kein Verhör sein.
Berufstypen und Kontextfaktoren
Die Validität von strukturierten Interviews wird nicht nur von der Auslegung der Frage beeinflusst, sondern variiert auch je nach Komplexität der jeweiligen Position. Für anspruchsvollere Berufe müssen die gestellten Fragen und hypothetischen Szenarien entsprechend komplex sein, um die Fähigkeiten der Bewerber*innen angemessen zu testen.
Auch zusätzliche Informationen, wie etwa finanzielle oder rechtliche Rahmenbedingungen des Unternehmens, in dem sie tätig waren, können notwendig sein, um ein vollständiges Bild der Erfahrung der Kandidat*innen zu erhalten (Huffcutt et. al., 2004, Sackett et al. 2023). Somit können die Herausforderungen in einem finanziell schlecht gestellten Unternehmen höher sein, als in einem finanziell gut gestellten Unternehmen. Hier kommen nämlich andere Herausforderungen dazu, da man mit dem vorhandenen Budget viel enger planen muss und nicht viel Spielraum zur Verfügung steht.
In Berufen, welche viel Stress auslösen, wie dem Kundenservice, fällt es den Bewerber*innen leichter, relevante Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit zu schildern. Dies kann den Interviewprozess erleichtern da die Kandidat*innen in der Regel viele konkrete Beispiele aus ihrer Arbeitserfahrung abrufen können. Aber natürlich auch nur, sofern es keine Berufseinsteiger*innen sind.
In weniger dynamischen Bereichen kann das Abrufen relevanter Erfahrungen jedoch schwieriger sein, da komplexe und herausfordernde Situationen seltener auftreten. In solchen Berufen sind die Bewerber*innen möglicherweise weniger in der Lage, spezifische Beispiele aus der Vergangenheit zu liefern, was zu einer höheren kognitiven Belastung führen kann. Daher erfordert der Interviewprozess in solchen Kontexten eine gezieltere Gestaltung der Fragen, um die validen Antworten zu erhalten. Eine Alternative zu biographischen Fragen können situative Fragen sein (DIN 33430). Hierbei werden keine Fragen hinsichtlich Erfahrungen aus der Vergangenheit gestellt, sondern gefragt, wie die Person in einer Situation handeln würde, sodass anstatt der Vergangenheitsperspektive das gegenwärtige Handeln untersucht wird.
Fazit – Der Weg zu objektiveren Auswahlprozessen
Strukturierte Interviews sind ein unverzichtbares Werkzeug für die Personalauswahl, da sie eine hohe Validität aufweisen und eine objektive Auswahl von Kandidat*innen ermöglichen. Um ihre Wirksamkeit weiter zu steigern, sollten Unternehmen jedoch darauf achten, wie Fragen formuliert werden, um eine hohe Validität zu gewährleisten. Gleichzeitig ist es wichtig, die kognitive Belastung der Kandidat*innen zu reduzieren.
Sorge für einen angemessen hohen Grad an Strukturierung in deinem Interviewprozess, um die Validität und damit die Vorhersagekraft deiner Interviews bestmöglich zu erhöhen.
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Um die Validität der Auswahlprozesse noch weiter zu steigern, kann es sinnvoll sein, einen Methoden-Mix anzuwenden. Hierbei können strukturierte Interviews mit bspw. Testverfahren (Intelligenz oder Persönlichkeit) oder weiteren Übungen, wie z.B. Rollenspiele oder Präsentationen kombiniert werden. Wir bei Applysia haben eine Software für eignungsdiagnostische Verfahren entwickelt, die nicht nur strukturierte Interviews, sondern ebenfalls Assessment & Development Center abbilden und individualisieren lässt, wodurch die Qualität, Effizienz und Professionalität der Verfahren gesteigert werden kann. Wenn du mehr über die Softwarelösung von Applysia erfahren möchtest, melde dich gerne bei uns!
Für weitere Informationen haben wir einen weiteren Blogbeitrag zu diesem Thema für dich: https://applysia.de/hr-wissen/interviews-in-der-personalauswahl/.